Bevor etwas zu sehen ist, ist meistens etwas zu hören. Akustische Gegebenheiten des Orts machen den Anfang, stimmen als Tonspur auf den Bildgegenstand ein, der nach und nach enthüllt wird. Der Name eines Hauses erscheint auf der Bildfläche, eine Jahreszahl und ein Ort. Die Kamera verweilt lange in der Panoramaposition, stellt ruhige, beharrliche Bilder von Häusern in ihren alpinen oder urbanen Umgebungen her, rahmt minimale Bewegungen, die den Augen Zeit lassen, sich umzusehen und die immer wieder zu verstehen geben, dass hier nichts geschieht und nichts stillsteht. Keine spürbaren Tempowechsel, keine Stills. Die Kamera erfüllt ihre Bestimmung, indem sie das „Zittern der Blätter“ wiedergibt, schreibt Siegfried Kracauer im Vorwort zur Theorie des Films.
Die Kamera übt ihre Grundfunktion des Registrierens aus, des abwechselnden Entfremdens und Näherbringens einer bestimmten Vision der Realität von Gebäuden. Es gehe, sagt der Architekturfotograf und Filmemacher Lukas Schaller, um ein Herzeigen der Häuser so wie sie heute dastehen, um ein Sichtbarmachen ihrer Beziehung zur Topographie und um die Möglichkeit genauer hinzuschauen und etwas noch Unbekanntes zu sehen. Die Kurzfilme über ausgewählte noch vorhandene Bauten von Lois Welzenbacher bestehen aus hart geschnittenen Sequenzen von Bewegtbildern im Seitenverhältnis 16:9, die ein Geschehen am Rande der Unmerklichkeit im Zeitverlauf zeigen. Mehrere, mit verschiedenen Fixbrennweiten aufgenommene Ansichten eines Hauses werden vorgeführt, zunächst das Äußere von unterschiedlichen Standpunkten und aus unterschiedlicher Entfernung – der Wechsel der Kameraeinstellung von der Totale/Halbtotale zur Nahaufnahme ist sprunghaft und erfolgt abrupt. Die Einstellungen, die jeweils rund 15–25 Sekunden andauern, sind nicht verunklärt durch simulierte Bewegung; es gibt keine Zooms, keinen Schwenk, keine Kamerafahrten, die eine wirkliche Hausbegehung nachzustellen versuchen. Die Zwischenschritte von einer Kameraposition zur nächsten bleiben ausgespart, dem Zuseher, der Zuseherin überlassen. Umso freier wandern die Augen in den langen Einstellungen umher.
Das bauliche Werk von Lois Welzenbacher, sei es auch unter einer dicken Überformungsschicht verborgen, strahlt in den Filmen eine zuverlässige Präsenz aus. In den ersten Sequenzen regt sich vielleicht der Impuls, die chaotischen Details der heutigen Umgebung aus dem Bild tragen zu wollen, um die ursprüngliche Erscheinung der Bauten, wie wir sie von den präzise retuschierten Originalfotografien, den Architekturmodellen und den Handskizzen von Welzenbacher zu kennen glauben, gedanklich wiederherzustellen. Doch da die Kamera keine übertriebenen Bilder liefert, sondern die Häuser gelassen in Szene setzt, stehen die Filme weder in Konkurrenz zum kulturellen Bildgedächtnis noch zum Genre der konzeptbetonten Fotografie, von dem die Architekturvermittlung gerade im Fall Welzenbachers bevorzugt zehrt.
Keine Begleittexte unterwandern oder überhöhen das Hergezeigte. Auch wenn in den Filmen nichts erklärt und kein externer Erzählstrang eingeflochten wird, schließen die wechselnden Einstellungen nichts aus, was sich in einem Bildfeld vor den Augen der Zuseher abspielen könnte. Schon in den Establishing Shots wird der Imagination der Betrachter Raum zur Entfaltung gelassen, die Präsenz des Abwesenden betont – z.B. der nicht ins Bild tretenden Bewohnerin, der visuell nicht beglaubigten Vogelstimme, des nur hörbaren Klapperns von Geschirr. Diese Betonung der außerhalb des Bildausschnitts angesiedelten Vorgänge steigert die Bildwahrnehmung mitunter – vielleicht ohne Absicht – ins Geheimnisvolle, ja Unheimliche.
Dokumentarfilme, die auf einen erläuternden Kommentar verzichten, gehen von der Voraussetzung aus, dass die ins Bild gesetzten Inhalte „für sich selbst“ sprechen. Deutete Otmar Barth etwas Ähnliches an, als er seine Bemerkungen zu Lois Welzenbacher mit dem Satz einleitete, dass dessen Werk eigentlich keiner Bemerkungen bedürfe? Wollte er damit sagen, dass man eben nur genau genug hinschauen müsse, um die Konzeption der Häuser an ihrem Ort in der Landschaft zu begreifen? Wollte auch er zu verstehen geben, dass Welzenbachers Bauwerke so etwas wie Sehbehelfe seien, die auf die Besonderheit einer Landschaft aufmerksam machen? Die Kamera nimmt sich Gebäude vor, die in ihrer Raumdramaturgie blickführend sind. Die Natur sei keine „Attrappe um das Haus herum“, schreibt Lois Welzenbacher in Haus in der Landschaft, sondern das Haus selbst ist als ein „Sonne atmender Organismus“ aufzufassen, „mit seinen Organen den Tageszeiten zugewandt, gelockert in den Gliederungen des Grundrisses, mit großen Ausblicken auf die Landschaft, ein gleichsam zum Wesen erhobener Schnittpunkt all des Schönen außen …“ . Diese Bewegungsmomente einer architektonischen Konzeption zeichnet Sigrid Hauser in ihrer Studie über Werk und Arbeitsweise Lois Welzenbachers anhand von Originalfotos und -skizzen eindrucksvoll nach. Der Architekt bearbeitete Fotos, damit sie seinen Entwurfsgedanken optimal repräsentieren. Der nicht dem Zufall überlassene Blick in die Landschaft, das Zelebrieren der Bilder, die aus ihr herausgeschnitten werden, sind Bestandteil der Häuser und willkommener Rohstoff der Kamera-Realität.
Filmbilder, die ihrer Vieldeutigkeit noch nicht beraubt sind und die einander verlässlich ablösen, gewähren andere Freiheiten als ein Architekturfoto, sagt Lukas Schaller, das in einer einzigen Einstellung Wesentliches aussagen will. Zur Serie montiert kann sich die Fotografie dem Film graduell annähern – aber eben nie ganz. Die Überzeugungskraft eines kontinuierlichen Verlaufs des visuellen Materials fehlt. „I could show you a photograph of the place, but that doesn’t convince you, it is not the same as seeing it in time”, meint der amerikanische Filmemacher James Benning, den Lukas im Gespräch über die Unterschiede zwischen Fotografie und Film erwähnt. Dessen Dokumentarfilm „13 Lakes“ (2004) ist ein Beispiel für das kontemplative Genre des slow cinema, dem auch die Welzenbacher-Filme zuzurechnen sind. Das Bewegtbild, sei es noch so ruhig, evoziert eine zeitbasierte Raumerfahrung und vermittelt etwas anderes als eine in der Fotografie fixierte Interpretation des Gesehenen. In den Filmen von Lukas Schaller wirkt die aus dem alltäglichen Sound des Ortes gefilterte Tonspur zusätzlich als Bindemittel, das die Bilder in Fluss hält und ihre Beziehung zur physischen Realität der Häuser beglaubigt.
Die vielfältigen Außenaufnahmen halten auf Distanz, etablieren auf angenehme Weise das Bewusstsein, in das Geschehen nicht allzu verstrickt zu sein, sodass man die Oberfläche des Gebäudes ungestört abtasten kann. Seine Kurven und Kanten, die Dachformationen, die Schattenwürfe an der Fassade. Die „Fensterreize“ in ihrer, wie Otmar Barth feststellte, „proportionalen, fast mathematischen Positionierung am Baukörper“. Umso überraschender dann der Moment, wenn sich der Blick im Inneren des Hauses wiederfindet. Wenn die Kissen auf den Sitzmöbeln der Stube in den Bildvordergrund gerückt sind. Wenn Personen unbehelligt an ihrem Arbeitsplatz hantieren. Wenn die Tür am Ende der Stiege schon offensteht, um ins nächste Zimmer zu münden und von dort auf den Balkon treten zu lassen, den man von außen schon kennt. Beim Abtasten der Räume zeigt die Kamera keine Scheu vor unbedeutenden Details, registriert sie mit der gleichen Aufmerksamkeit wie die Bäume oder Geleise vor dem Fenster und den Ping-Pong-Tisch im Garten.
In manchen Häusern fehlen Gegenwartspartikel (oder sind sie nur zufällig gerade nicht im Bild?), in anderen haben sie den Raum fast vollständig zugedeckt. Hervorgehoben werden die Schnittstellen zwischen Außen/Innen und Innen/Innen – all die Durchgänge, Türen, Fenster, Luken, Balkone, Sonnenplätze, Stiegen und Schwellen, die die Bewegung des Sehens in Fluss halten. Durch diese sorgfältigen Hervorhebungen der räumlichen Schnittstellen fällt es leicht, die bereits konsumierten Einstellungen mit den gerade präsenten Ansichten zu synchronisieren und die unterschiedlichen Film-Sequenzen in der kausalen Kontinuität eines Ganzen zu erfahren. Das Bildfeld, Sammelpunkt flüchtiger Eindrücke, erscheint fokussiert. Der Blick geht durch ein Fenster, dessen Positionierung im Baukörper schon vorgeführt wurde. Der Blick geht in die Landschaft, die in anderer Kadrierung zuvor schon zu sehen war. Der wiederholte Wechsel von Draußen-Drinnen-Draußen und die Wiedererkennbarkeit der Dinge von der anderen Seite wirkt vertrauensbildend und überzeugend. Man muss nicht belehrt werden, kann sich unbefangen durch alle Bilder des Hauses bewegen, die die Kamera anbietet. Ich sehe, was ich sehe, die Filme zeigen, was sie zeigen.
Gabriele Kaiser, 29.07.2019